Mathematisch-physikalische Verfahren zur Beschreibung der Sprachausbreitung als Diffusion
Mathematisch-physikalische Verfahren zur Beschreibung der Sprachausbreitung als Diffusion
Als Diffusion bezeichnet man in Physik und Chemie die räumliche und zeitliche Ausbreitung von Teilchen. Sie folgt der Fickschen Diffusionsgleichung (A. Fick 1855), unter bestimmten Randbedingungen mit einer Gaußkurve (Glockenkurve) als Lösung, deren Höhe mit steigendem Abstand vom Ausgangspunkt abnimmt. Die Gaußkurve ist umso breiter, je größer die Diffusion ist, die durch die „Diffusionskonstante“ charakterisiert wird.
Untersuchungen der Diffusion von Sprachen und von Wörtern in Sprachen mit exakten mathematischen Methoden haben erst vor wenigen Jahren begonnen. Zu groß war lange Zeit die Kluft zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, zu hoch die Skepsis, dass die Details der Sprachausbreitung nicht mit exakten Methoden beschrieben werden könnten, dass also die Anwendung solcher Methoden grober Reduktionismus wäre.
Schließlich haben PhysikerInnen den Bann gebrochen: Unter Verwendung von einfachen Ratengleichungen wie die für die Beschreibung des radioaktiven Zerfalls haben D.M. Abrams und S.H. Strogatz den zeitlichen Rückgang von Minderheitensprachen zugunsten dominierender Sprachen mit „höherem Prestige“ beschrieben, und mehrere Forschungsgruppen haben den Ansatz von Abrams und Strogatz auf räumliche Ausbreitungsvorgänge, also auf Sprachdiffusion erweitert. Das von ihnen verwendete System aus erweiterten Diffusionsgleichungen beschreibt den Fortschritt einer Sprache und Rückgang einer anderen Sprache als gekoppelte Prozesse. Man kann diesen Ansatz als „makroskopisch“ oder pauschal bezeichnen, denn einzelne Siedlungseinheiten werden nicht im Detail berücksichtigt. Ein Einwand ist, dass der Begriff „Prestige“ – der oft in makroskopischen Modellen als Parameter verwendet wird – undefiniert ist und seine Größe angepasst wird.
Das Verfahren, das wir entwickelt haben, ist detaillierter: es verwendet die Methode der zellulären Automaten, bei denen die Landschaften in kleine Zellen unterteilt wird, die alle einzeln betrachtet werden. Das bedeutet, dass es die Entwicklung durch Betrachtung des sprachlichen Einflusses benachbarter Bevölkerungszellen (also Weiler, Dörfer, Städte) gemäß ihrer Bevölkerungszahl und Entfernung voneinander beschreibt. Dazu sind umfangreiche Computersimulationen notwendig, denn das Datenmaterial soll eine große Zahl von Zellen umfassen, die die einander wechselseitig beeinflussen. Wir bezeichnen unser Verfahren daher als „mikroskopisch“. Um eine solche Auflösung erreichen zu können, benötigen wir sehr detaillierte („hochaufgelöste“ nennt dies die Physik) Daten.
Wir beschreiben also die Wechselwirkung zwischen den Sprecherinnen und Sprechern zweier Sprachen, die zum Rückgang der einen und zur Ausbreitung der anderen führt, mit einem Diffusionsansatz, der die Nachbarn betrachteter Orte berücksichtigt, wobei die gegenseitige Einflussnahme der Zahl der Sprecher proportional ist und mit dem Abstand der Siedlungseinheiten abnimmt. Mit einem einheitlichen Ansatz für alle Siedlungseinheiten optimieren wir unsere Simulation durch Vergleich mit den von den Volkszählungen ermittelten tatsächlichen Sprecherinnen- und Sprecherzahlen.
Literatur
- Abrams, Daniel M./Strogatz, Steven H. (2003). Modelling the dynamics of language death. Nature 424:900. DOI :10.1038/424900a.
- Isern, Neus/Fort, Joaquim (2014). Language extinction and linguistic fronts. J R Soc Interface 11(94). DOI: 10.1098/rsif.2014.0028.
- Kandler, Anne (2009). Demography and Language Competition. Human Biology 81:181–210. DOI: 10.3378/027.081.0305.
- Mehrer, Helmut (2007). Diffusion in Solids. Fundamentals, Methods, Materials, Diffusion-Controlled Processes. Berlin-Heidelberg: Springer.
- Patriarca, Marco/Heinsalu, Els (2008). Influence of geography on language competition. Physica A 388:174–186. DOI: 10.1016/j.physa.2008.09. (verfügbar als PDF)
- Patriarca, Marco/Leppänen, Teemu (2004). Modeling language competition. Physica A 338:296–299. DOI: 10.1016/j.physa.2004.02.056.
- Schulze, Christian/Stauffer, Dietrich/Wichmann, Søren (2007). Birth, survival and death by Monte Carlo simulation. Commun Comput Phys 3(2):271–294. (Preprint als PDF)
- Walters, Caroline E. (2014). A reaction–diffusion model for competing languages. Meccanica 49:2189–2206. DOI: 10.1007/s11012-014-9973-2.
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Slowenisch-Deutsch in Kärnten
Slowenisch-Deutsch in Kärnten
Die hier beschriebene Studie widmet sich dem Rückgang des Slowenischen in Südkärnten.
Ein detaillierter Datensatz über die jeweiligen Umgangssprachen der Menschen steht uns für Südkärnten zur Verfügung, denn in der österreichisch-ungarischen Monarchie wurden in Abständen von 10 Jahren Volkszählungen für alle Reichsgebiete mit hoher räumlicher Auflösung durchgeführt. Diese Volkszählungen wurden nach dem Zerfall der Monarchie auch in der Republik Österreich bis 2001 weitergeführt. Als Ergebnis erhalten wir, dass es ganz wesentlich der direkte Sprachaustausch ist, der zur sukzessiven Ausbreitung des Deutschen und dem damit gekoppelten Rückgang des Slowenischen führt. Zweisprachige Schulen und der Gebrauch des Slowenischen in der Kirche scheinen wenig Einfluss zu haben. Jedoch ist die Entwicklung in den größeren Städten Klagenfurt und Villach anders: In der ersten Untersuchungsperiod (Zeit bis zum Ersten Weltkrieg) zeigt sich ein schnellerer Verlust des Slowenischen in den Städten als außerhalb. In der Neuzeit hingegen tritt ein gegenteiliger Effekt ein und das Slowenische nimmt in den Großstädten sogar zu.
Was wusste man bisher über die Entwicklung der Sprachen in diesem Teil der Welt? Für die österreichisch-ungarische Monarchie der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg hat E. Brix 1982 eine umfangreiche Studie vorgelegt, die sich auf die Volkszählungen stützt. Brix diskutiert ausführlich die Problematik der Volkszählungen auf dem Gebiet der zehn Sprachen der Monarchie. Er erwägt mögliche Fehler durch politisch motivierte Funktionäre, die für die Datenerhebung zuständig waren, bezieht sich allerdings nicht auf die Kärntner Verhältnisse sondern auf periphere Gebiete des Reichs, wo der Anteil von Analphabetinnen und Analphabeten besonders hoch war. Dass die Sprachangaben manchmal eher eine Willensbekundung als eine Meldung über die tatsächliche Umgangssprache waren, wird ebenfalls angesprochen. Die Problematik der Frage „Was ist eine Umgangssprache?“ sollte auch nicht außer Acht gelassen werden.
In der Zeit seit dem Ende des Ersten Weltkriegs bis in die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg kam es in Südkärnten zu teilweise heftigen Konflikten – eine eingehende Erörterung findet sich z.B. bei V. Inzko et al. Die Daten der Volks- und damit Sprachzählungen dieser Zeit sind nur teilweise im gleichen Detail vorhanden wie jene der unseren Untersuchungen zugrunde liegenden Perioden von 1880 bis 1910 und 1971 bis 2001. Zudem folgt die Sprachentwicklung in dieser Zeit durch politische Umbrüche, so müssen wir annehmen, nicht den Gesetzen der Diffusion. Deshalb haben wir sie nicht in unsere Modellierungen einbezogen.
Literatur
- Brix, Emil (1982). Die Umgangssprachen in Altösterreich zwischen Agitation und Assimilation. Die Sprachenstatistik in den zisleithanischen Volkszählungen 1880 bis 1910. Wien: Böhlau.
- Inzko, Valentin et al. (1988). Geschichte der Kärntner Slowenen: von 1918 bis zur Gegenwart unter Berücksichtigung der gesamtslowenischen Geschichte. Klagenfurt: Hermagoras.
- Malle, Augustin/Entner, Brigitte (2003). Die Kärntner Slowenen. Hrsg. von der Kärntner Landesregierung/Volksgruppenbüro. (verfügbar als PDF)
- Teibenbacher, Peter/Kramer, Diether/Göderle, Wolfgang (2012). An Inventory of Austrian Census Materials, 1857–1910. Final Report. Graz: Mosaic Working Paper WP-2012-007. (verfügbar als PDF)
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